Wir sind die Lebenden - Roman by Johannes Gelich

Wir sind die Lebenden - Roman by Johannes Gelich

Autor:Johannes Gelich
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Haymon Verlag
veröffentlicht: 2013-01-22T00:00:00+00:00


12

Ich wurde von einem energischen Klopfen und den Rufen meiner Schwester geweckt und ahnte sogleich, dass ihr Auftauchen vor der Arbeit nichts Gutes bedeuten konnte. Ich stemmte mich hoch, wankte auf den Krücken zur Tür und öffnete ihr. Sie steckte in einer silberfarbenen Rockklage und rauschte von einer Parfumwolke umhüllt an mir vorbei.

„Mucki, bist du schon auf?“, schnatterte sie vor sich hin und verbreitete sofort ihre unverwüstliche Heiterkeit. „Du gehst ja bereits auf Krücken“, rief sie begeistert aus und fletschte dabei die Zähne, „schau her, ich habe dir Obst mitgebracht, es gibt schon Erdbeeren.“

Sie entleerte ihren Einkaufssack auf der Waschmaschine und schlichtete die Orangen und die Erdbeeren aufeinander. Ich schleppte mich in mein Kabinett und ließ mich wieder auf das Kanapee fallen. Ich ahnte sofort, dass sie etwas im Schilde führte und die frühe Morgenstunde ihres Besuches absichtlich gewählt haben musste, um mich zu überrumpeln. Ich war überhaupt noch nicht zu mir gekommen und ermahnte mich, auf der Hut zu sein, denn gewiss würde sie gleich irgendwelche Dokumente aus ihrer Ledermappe ziehen und mir zum Unterschreiben vorlegen. Ich malte mir aus, wie sie sich am Vorabend ihre Strategie zurechtgelegt und gedacht hatte: ‚Den überrasche ich in aller Herrgottsfrühe, da ist er von seinem dämlichen Dope noch ganz benebelt und unterschreibt alles, damit er weiter sein sinnloses Leben verschlafen kann.‘ Sie hatte sich in ihrem Größenwahn schon immer für cleverer gehalten. Sie, die ja ganz nach unserem Vater geraten war, und der Vater hatten Cleverness und Intelligenz schon immer miteinander verwechselt, wobei sie damit vielleicht sogar Recht hatten. Vielleicht war Cleverness tatsächlich die zeitgemäße Form der Intelligenz? War man nicht schnell genug, und clever sein bedeutete ja vor allem schnell sein, dann war man heute ohnehin ein Idiot.

Sie plumpste in den Rollstuhl, holte einige Unterlagen aus ihrer Mappe und erklärte, dass sie noch einmal mit ihrem Anwalt gesprochen habe. Sie blätterte nervös in ihren Papieren und wiederholte: „Wir haben wie besprochen einige Schriftstücke ausgearbeitet.“ Ich fragte scheinheilig, wovon sie rede, wir hätten überhaupt nichts besprochen.

„Aber Mucki“, unterbrach sie mich in ihrem überheblichen Große-Schwester-Tonfall, „natürlich haben wir die Sache besprochen. Wir haben doch über die Vollmacht geredet.“

„Welche Vollmacht?“, rief ich aus, „ich weiß gar nicht, was du von mir willst.“

„Die Vollmacht, die du mir erteilen sollst, Mucki, damit ich mich um deine Angelegenheiten kümmern und für dich die Mieten eintreiben kann.“

„Ich soll dir meine Anteile überschreiben“, sagte ich, „ist es das, was du willst? Vergiss es einfach.“

„Es geht doch überhaupt nicht um die Anteile“, antwortete sie betulich, „du sollst mir nur eine ganz gewöhnliche Hausverwalter-Vollmacht unterschreiben, und du bekommst nach Abzug einer Verwaltungspauschale deine Mieteinnahmen. Das ist alles. Ich will dir doch nichts Böses, warum glaubst du immer, dass ich dir etwas zufleiß tun will?“ Sei auf der Hut, sagte ich mir, sie hat einen Plan, gehe ihr nicht auf den Leim!

„Das klingt zu schön, um wahr zu sein“, antwortete ich. „Und was hast du davon?“

„Wir müssen etwas mit dem Garten machen“, antwortete sie beflissen. „Ich habe dir doch bereits gesagt, dass ich für die Angestellten meiner Baufirma Parkplätze be­nötige, das ist alles.



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